Wo Vertrauen ist, ist Heimat – Gastbeitrag von Dr. von Vieregge

Wo Vertrauen ist, ist Heimat Cover

Entwurf des Buchcovers

Wir freuen uns, einen Gastbeitrag vom Publizisten Dr. Henning von Vieregge präsentieren zu können. Wir sind auf ihn gestoßen, da er zur Zeit für ähnliche Themen einsteht wie wir mit Helden der Heimat: Heimat und bürgerschaftliches Engagement!

Seine Vita ist lang und beeindruckend. Die gemachten Erfahrungen landen nun in einem neuen Buch. In „Wo Vertrauen ist, ist Heimat – Auf dem Weg in eine engagierte Bürgergesellschaft“ beschreibt er ausführlich die Beziehung zwischen diesen Begriffen. Wer Interesse an diesem Thema hat, kann sich am Crowdfunding zum Buch (oekomcrowd) beteiligen!

Das Buch soll erst am 06. Dezember herauskommen, mit der freundlichen Genehmigung des Autors können wir jetzt schon ein paar Zeilen hier verraten. Hier leitet er in das Thema ein, beginnend vom eigenem Bekanntenkreis bis hin zur großen Politik. Anschließend stellt er seine sieben Diskussionspunkte vor.

Viel Spaß bei der Lektüre!

 

 „Ich möchte mich verschenken“

Millionen Menschen in Deutschland engagieren sich. Ihr Engagement umfasst alle Lebensbereiche. Viele dieser Engagierten sehen weder die Möglichkeit noch die Notwendigkeit für sich, über das, was sie so verdienstvoll tun, systematisch nachzudenken. So wie jene Frau, die in einem Seminar zum Älterwerden aufstand und sagte: „Ich möchte mich verschenken“ – das sei jetzt für sie dran, das spüre sie. Wir Anderen saßen da wie vom Donner gerührt und jeder dachte sich, ja, so kann man auf die Frage nach einer selbstherbeigeführten Zäsur im Leben auch antworten. Entschlossen, radikal und offen.

Aber auch dieser Frau kann man sagen: „Bitte verschenke dich nicht sinnvoll in der Absicht, aber sinnlos im Ertrag. Damit du Deinen Einsatz später nicht bereust, sondern weißt, du hast alles richtig gemacht.“

Ich plädiere nicht für ängstliches Zögern.

Da, wo es notwendig ist, muss gehandelt werden. Manchmal fehlt uns die innere Bereitschaft, im konkreten Bedarfsfall sofort zu helfen. Meine Freundin C.G. ist so ein Mensch, die über dieses wunderbare Gespür verfügt, genau im richtigen Moment an der richtigen Stelle das Richtige zu tun. Sie war keine wirkliche Freundin von K., eher eine Bekannte. Aber als K. lebensgefährlich erkrankte, war C. da. Sie half praktisch („Ich habe schon mal was vorgekocht“) und seelisch. Über Wochen. Bis zum Ende, als ihre Freundin starb. C. ist vielfach engagiert, aber sie hat immer noch Reserven, die sie einsetzt, wenn sie sieht: Hier werde ich gebraucht.

Aber sollte es nicht auch Zeiten der Reflexion geben, des Innehaltens? In solchen Augenblicken trittst du gewissermaßen auf die andere Seite der Straße und schaust herüber: Was geschieht da eigentlich, was mache ich, ist das verantwortbar mir gegenüber, dem Nächsten auch, und was bedeutet mein Tun eigentlich gesellschaftlich? Das, was ich möchte, geschieht das wirklich: Die Welt heute für morgen ein wenig besser zu machen? Das nämlich steht doch über allem Engagement geschrieben, bewusst oder unbewusst. Man könnte die Messlatte sinnvollen Engagements auch so beschriften: Stoppt es Entheimatungstendenzen? Ist es ein Beitrag zur Beheimatung?

Mal direkt gefragt:

Vielleicht haben gerade Sie mit Freunden zusammengesessen und es war wie immer: angenehm, leicht, an der schönen Oberfläche des Lebens. Und dann war es anders. Plötzlich. Denn einer der Gäste äußerte sich ungewohnt: persönlich und grundsätzlich. Zum Beispiel: Er oder sie hat eine radikale Partei gewählt und sagt das nun oder offenbart eine beunruhigende medizinische Prognose, war im Gottesdienst und will jetzt öfters hin, hat sich eine Grabstelle ausgesucht, organisiert ein Kirchenasyl für einen Schneider aus Somalia, der sich auf der Flucht in Bulgarien registrieren ließ und nun dorthin abgeschoben werden soll. Widerspruch, Trost, Zustimmung, Unterstützungsofferte – auf einmal ist nichts mehr oberflächlich. Nachdenken in der Runde: Wo stehe ich? Wo komme ich her? Wo will ich noch hin? Was hilft mir dabei? Es geht um Glauben, Zweifel und Vision, vielleicht auch um Furcht vor dem Alter. Das eben noch freundlich hinplätschernde Gespräch schlägt nun hohe Wellen. Es kann die Frage aufkommen: Soll ich mich mehr einbringen? Ins Gespräch und überhaupt?

Möglich ist auch das Gegenteil. S.P. hat bei Whatsapp einen Spruch stehen: „Ab heute bin ich nett zu mir“. Sie plagt das Gefühl, zu viel für andere da zu sein, zu wenig für sich. Sie möchte weniger engagiert leben, sich zurücknehmen. Wer sie kennt, kann ihren Wunsch nachvollziehen.

Aber was ist mit „Ab heute bin ich nett(er) zu Anderen“? Oder: „Ab heute lebe ich engagierter“. Neulich erzählte jemand von einer Initiative seiner Kirchengemeinde, die er selber maßgeblich mit eingespurt hatte: Zweimal im Monat Kochen und Essen mit Obdachlosen. Seine unausgesprochene Bitte kommt an, zumindest bei mir: Seither frage ich mich, ob ich das nicht mal probieren will.

Engagement und Heimat als Gesprächsstoffe

Das Thema „Engagiert leben“ wurde – nicht zuletzt durch die Flüchtlingskrise – nie so heftig diskutiert wie in diesen Tagen. Die Stärke einer Zivilgesellschaft sei doch ganz entscheidend, sagt einer. Was ist denn das überhaupt, Zivilgesellschaft? möchte eine Andere wissen.

Ohne die Engagierten hätte die Bundeskanzlerin mit ihrem Satz „Wir schaffen das“ ganz schön alt ausgesehen, wirft jemand ein. Ach hör mir auf mit denen, sagt eine Schulleiterin und berichtet, diese Engagierten seien häufig nervige Gutmenschen, weil sie alles besser wissen und den Betrieb mit ihrem Anspruch, gepaart mit Ahnungslosigkeit, durcheinander bringen. Sie seien für Hauptamtliche eine anstrengende Unterstützung, bei der sie sich manchmal frage, ob sie nicht lieber drauf verzichte.

Ja, es lohnt sich, über diese Beziehung differenziert nachzudenken, wenn auch Kritik von Hauptamtlichen an Ehrenamtlichen offen und nachlesbar äußerst selten ist, wohl, weil man sich als Hauptamtlicher nicht in diese kritische Zone der kulturellen Inkorrektheit begeben möchte. Andererseits würde in vielen Institutionen zum Beispiel der Pflege oder der Bildung, der Betrieb ohne die Engagierten nicht mehr laufen. Auch Nachbarschaft braucht Menschen, die engagiert leben.

Über Engagement wird geredet und auch über Heimat. Mittlerweile gibt es eine Fülle von Aussagen zu Heimat zwischen Realität und Vision, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, orts- oder personenbezogen. Im Folgenden wird zu beiden Themen, Engagement und Heimat, der Diskussionsstand ausgebreitet – Ausgangspunkt ist Engagement – und nach der Beziehung zwischen beidem gefragt. Einige wichtige Diskussionspunkte werden kurz aufgeblättert.

Sieben Diskussionspunkte

Erstens geht es um Behauptungen, die einander ausschließen. Leben wir in einer sich stetig verstärkenden Zivilgesellschaft mit wachsendem Bürgerengagement und sind dabei, eine neue Stufe der Demokratie zu erreichen? Wird alles besser? Oder leben wir in einer Zeit des Zerfalls von Staat und Gesellschaft? Ein Indiz dafür, heißt es dann, sei die Inpflichtnahme des Bürgers zum scheinfreiwilligen Engagement; Bürgerengagement als Lückenfüller im (vergeblichen) Versuch, die auseinanderdriftende Gesellschaft zusammenzuhalten. Wird alles schlechter?

Zweitens: Das bürgerschaftliche Engagement ist in Deutschland nicht gesunken, es ist in einigen Altersgruppen sogar gestiegen. Also mehr Zusammenhalt, mehr Heimat, mehr Glück? „Wer sich engagiert, kommt aus dem Haus, bleibt in Bewegung, hat eine sinnvolle, befriedigende Aufgabe“.[1] Wenn es denn so einfach wäre. Engagement macht nämlich nicht automatisch glücklich, wie immer wieder behauptet wird. Engagement ist aber auch nicht nur Stress, den man sich in jedem Fall ersparen sollte. Diskutiert werden sollte auch, ob das Naheliegende, nämlich den Trend fortzuschreiben, wirklich naheliegt.

Drittens haben junge Leute – die Entwicklung startete in Großbritannien – die Forderung nach effektivem Altruismus gestellt[2]. Muss engagiertes Leben effektiv sein? In den USA ist es selbstverständlich, dass bürgerschaftliche Initiativen auf Heller und Pfennig vorrechnen, was ihr Engagement wert ist. Die Debatte zeitigt Folgen, auch in Deutschland. 24 Lokalgruppen, die sich vor Ort dem Thema „effektiver Altruismus“ widmen, soll es bereits geben mit 1000 bis 2000 Aktiven.[3] Teile der Zivilgesellschaft sträuben sich gegen diesen Aspekt ihres Tuns. Die Keule „Ökonomisierung“ liegt immer griffbereit. Gewarnt wird vor dem Verlust des Besonderen der Zivilgesellschaft.

Viertens geht es um die Frage der institutionellen Förderung von Engagement. Warum sind Zivilgesellschaft und Bürgerengagement, das zu 80 Prozent in dieser Arena stattfindet, weitgehend abhängig von staatlicher Förderung? Es ist schwierig, mit jemandem auf Augenhöhe zu sein, der immer wieder aufs Neue gebeten werden will, „Unterstützung zu gewähren“, wie es dann in hoheitlicher Arroganz gern formuliert wird. Unternehmertum in der Zivilgesellschaft, das bei Erfolg Unabhängigkeit von staatlichen Instanzen bedeutet, ist hierzulande immer noch die Ausnahme. Warum eigentlich?

Fünftens: Ebenfalls zur Qualitätsdiskussion bürgerschaftlichen Engagements gehört es, die helle und die dunkle Seite des Engagements gegeneinander abzuwägen, bezogen auf den Gemeinwohlnutzen. Dass an dieser Stelle keine Einigkeit zu erzielen ist, liegt in der Natur pluraler Vielfalt, einem zentralen Wert unserer Gesellschaft. Gleichwohl kann die Bemühung um Klärung nicht aufgegeben werden. Kann man sagen, dass jedes bürgerschaftliche Engagement automatisch der Gesamtgesellschaft gut tut?

Sechstens: Ebenfalls klärungsbedürftig ist, ob Engagement sich von Bezahlarbeit prinzipiell unterscheidet, und wenn ja, wo und wie. Droht freiwilligem Engagement durch Bezahlung, die sich zumeist mit Durchprofessionalisierung paart, die Aushebelung ihrer Besonderheit? Aber: Sind hybride Formen von Freiwilligkeit und Bezahlung kategorisch abzulehnen? Menschen, die sich bürgerschaftlich engagieren, geben etwas Kostbares, ihre Lebenszeit. Sie arbeiten und bekommen kein Geld dafür. Sie finden dies in Ordnung. Ist dieser Beitrag wirklich anders als die Bezahlarbeit, davon abgesehen, dass er ohne materiell ausgedrückte Wertschätzung erfolgt? Das fragen sich nicht wenige. Die Antworten sind facettenreich, ja, manchmal sogar widersprüchlich. Überfällig ist eine ehrliche, theoretisch anspruchsvolle aber praxisgesättigte Debatte über diese wichtigsten Aspekte von Engagement. Engagement bezieht sich auf alle persönlichen, beruflichen, familiären und gesellschaftlichen Lebensbereiche. Mein Schwerpunkt liegt auf dem gesellschaftlichen Engagement.

Siebtens: Lokales Engagement findet dort statt, wo die meisten Menschen Heimat verorten. Heimat war ein lange tabuisierter, von Intellektuellen wie Politikern gemiedener oder belächelter Begriff, weil nazi-vergiftet oder einem Milieu zugeordnet, dem man gottseidank nicht angehörte. Selbst Volkslieder wurden als Heimattümelei abgetan. Mittlerweile gibt es eine wenn auch sachte Korrektur. Wenn man, wie ich dies tun möchte, Heimat zwischen Be- und Entheimatung stellt, dient dann nicht jegliches Engagement auch, ob angezielt oder nicht, der Beheimatung? Der deutsche Beitrag bei der Architekturbiennale in Venedig 2018 war mit „Making Heimat“ überschrieben.[4] Heimat wäre dann ein Begriff, an dem fortwährend gearbeitet wird, nicht nur von denen, die schon immer da waren, sondern auch von Zugereisten, Eingewanderten, Geflüchteten. Heimat, Engagement und Vertrauen gehören unabdingbar zusammen; Heimat ist da, wo Vertrauen ist. Vertrauen ist eine zentrale Kategorie. Nimmt Vertrauen in einer Gesellschaft zu, kann man von Beheimatungszuwachs sprechen, oder nimmt Vertrauen ab, droht Entheimatung. Was trifft bei uns zu?

[1] Ingo Zamperoni Fremdes Land Amerika, Berlin, 2016, S.257

[2] Führend William Mac Askill, Gutes besser tun, Wie wir mit effektivem Altruismus die Welt verändern können, Berlin 2016. Zum Stichwort Effektiver Altruismus Texte und Vernetzungsangebote.

[3] Patricia Bauer, 300 Augenoperationen statt eines Blindenhunds, in: FAZ vom 8.8. 2017 S.29 (Lokalteil)

[4] Peter Cachola Schmal u.a. (Hrsg.), Making Heimat. Germany, Arrival Country, Ostfildern 2016, ist das Buch zur gleichnamigen Ausstellung des Deutschen Pavillons auf der Architekturbiennale in Venedig 2016 und als Materialsammlung sehr zu empfehlen, auch wenn es sich auftragsgemäß auf die Perspektive der Architektur im Beheimatungsprozess ausrichtet. Es zeigt, wie weit die Bauwirklichkeit hinter den Bedürfnissen der Zuwanderer, aber auch all derjenigen, die nicht einfach Wohnungen, sondern Quartiere suchen, und zwar in Neubaugebieten.

 

 

 

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